Die Vermessenheit der Welt

Kaum ein Buch war in den vergangenen Monaten so vielbesprochen, -gelesen und
-diskutiert wie Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt". Der Roman um den kautzig-genialen Mathematiker Carl-Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt gelangte an mein Bewusstsein, als ich eines abends in 3 nach 9 reinzappte und Giovanni di Lorenzo schon die Verfilmung ehrerbietend pries (man sieht - ich bin nicht gerade der Schnellmerker, was den Buchmarkt betrifft). Und ja, die Art und Weise wie Kehlmann schnörkel- und umstandslos durch das Leben der beiden großen Männer gallopiert und dabei 'wie nebenbei' an große Fragen der Philosophie, an Schicksal und Metaphysik rührt, hat ihren Reiz. Ohne an intellektuellem Niveau einzubüßen, ist die Erzählung durchgängig kurzweilig, und Kehlmanns kluger Eigensinn tut sowohl der Charakterisierung der beiden Koryphäen als auch der "Belebung" ihrer Biographie gut. Warum es mich sehr gut amüsiert und trotzdem überhaupt nicht bewegt hat, kann ich schwer sagen. Ich halte mich eigentlich für einen Fan dieser Mischung: explosives semi-biografisches Material, eine leichte Feder und extreme Schlauheit. Die Mutter einer Freundin, ihres Zeichens die belesenste Frau Süddeutschlands, meinte dazu: "Also, wenn ich Philosophie lesen will, lese ich Philosophie, aber nicht Kehlmann!" So kann man es auch sehen. Für mich jedenfalls ist die "Vermessung der Welt" eine grandiose Aneinanderreihung verblüffender kleiner Genialitäten, aber weit weg von jenen großen Büchern, die über sich selbst hinauswachsen und jenseits dessen, was der Autor vermag, zu mehr werden als die Summe ihrer Teile. War das jetzt Philosophie? Man darf mich dafür vermessen nennen.



Bewertung: 7 von 10
Lesezeit: 3 Tage

Der Mensch im Schafspelz

Letzten Freitag war mal wieder Bestseller-Time. Die passiert ab und an, wenn ich durch die Bibliothek meines Vertrauens streife und mich kein Schmöker so richtig anspringt. Dann greife ich schon auch mal zu Titeln, weil sie einen "Spiegel-Bestseller" - Aufkleber tragen. So weit, so simpel. Bei "Glennkill" wusste ich bereits, dass es um Schafe geht, die kriminalistisch tätig werden, als sie ihren Schäfer ermordet auf der Weide finden. Und ich stellte mir eine lustige und ein kleines bisschen seichte Geschichte mit Slapstick-tauglichen Szenen und viel heiterem Geblöke vor. Jetzt, wo ich mir das Buch an vier Abenden mit Hochgeschwindigkeit einverleibt habe (die Schafe aus dem Buch hätten "abgeweidet" gesagt), muss ich gestehen, dass die Oberflächlichkeit bei diesem Vorurteil ganz allein bei mir lag. "Glennkill" ist nämlich rührend und tiefsinnig und spielt mit dem Gedanken, dass Menschen nicht zwanghaft die einzigen intelligenten Wesen auf der Erde sein müssen, nur weil sie sich andere Arten unterworfen haben. Die Schafe von Glennkill sind nämlich in vielerlei Hinsicht klüger als Menschen. Sie sprechen eben eine andere Sprache, und das führt - und hier lag ich richtig - zu teilweise belustigenden Missverständnissen - grandios erzählt von Swann, mit einem hintergründigen Humor und viel Lebensweisheit. Mit Slapstick haben die rührenden Bemühungen der wolligen Freunde aber nichts zu tun. Viel eher mit der Frage, was Gerechtigkeit ist und mit dem Mut, nach ihr zu suchen. Von diesen Schafen können wir viel lernen. Zum Beispiel, dass man seine Herde nicht verlassen sollte - und wenn man es tut, dann nur, um zurückzukehren. Und für alle, denen das noch nicht genügt, hier mein Lieblingszitat aus dem Buch. Es wird eine Testamentsverlesung aus der Sicht eines Schafes, Othello, beschrieben:

"Dann stimmten die Menschen noch einmal ein gedämpftes Gemurmel an. Rebecca war unter sie getreten, ihr Kleid ein Blutstropfen auf dem schwarzen Fell der allgemein vorherrschenden Trauerkluft. Blicke hefteten sich auf sie, Auge um Auge um Auge. Othello verstand gut, was hier gerade passierte: Rebecca war eine Augenweide, und die Männer grasten."

Ich schwöre euch: Ihr werdet nie wieder an einer Schafsherde vorbeifahren können, ohne eine herzliche Symphatie zu empfinden. Ich finde es gibt Schlimmeres.

Bewertung: 9 von 10
Lesezeit: 4 Tage


Gelehrte Leere

Was Literaturkritik angeht, habe ich ein Vorurteil eine Theorie, die ich an der Uni entwickelt habe und von der ich noch nie enttäuscht wurde. Sie besagt, dass ein Buch sehr bescheuert sein kann und trotzdem zuverlässig von der Kritik geschont, sogar respektiert werden wird, wenn einer der folgenden Faktoren darauf zutrifft:

a) Es ist das verkorkste Zweit- oder spätere Werk eines für seinen Erstling gefeierten Autors - man besitzt als FAZ-Feulletonist schlicht zu viel intellektuellem Narzissmus, um seine euphorischen Vorhersagen von gestern ("Dieser Mann wird Literaturgeschichte schreiben") einfach in die Tonne zu kloppen.
b) Das Buch ist von einem nachweislich promovierten, emeritierten oder anderweitig universitär heilig gesprochenen Autor verfasst worden und befasst sich auf höchst intellektuelle Weise mit höchst intellektuellen Figuren, die höchst intellektuelle Probleme durchleben.

Auf Javier Marias "Alle Seelen" treffen beide Punkte zu. Beim Versuch, im Nachhinein meine vergeudete Lesezeit zu rechtfertigen -man müsste es inzwischen besser wissen- fielen mir drei Ausreden ein. Erstens, die Süddeutsche hat den Titel in ihre Edition der 100 besten Romane des Universums aufgenommen, neben Namen wie Philip Roth, Bohumil Hrabal und Anna Seghers. Zweitens, auf dem rückwärtigen Buchdeckel lobt sich Marcel Reich-Ranicki einen Ast ab (er spricht vom Autor, nicht vom Titel, was auf Punkt a) hätte schließen lassen können), und drittens, der beste Satz des Buches wurde als Klappentext verwendet und beschreibt Oxford als die verstaubte, "in Sirup konservierte" Spielstätte einer Ansammlung belesener Nerds. Zu meiner Verteidigung - das klingt doch vielversprechend, oder etwa nicht?

Katharina Döbler von der Züricher Zeitung fand, man habe nach der Lektüre den "Eindruck, man habe sich einen interessanten Abend lang in etwas schrulliger, aber gebildeter und wohlerzogener Gesellschaft aufgehalten." Ich hatte eher den Eindruck, eine Handvoll Staub gefressen zu haben. Ironischerweise ist Marias Schreibstil so heillos verkopft wie genau das gelehrte Oxford, das er zu karikieren versucht. Die seitenlang minuziös aufgezeichneten Gedankengänge sind sozusagen grund- und bodenlos, aber immerhin so kompliziert, dass man sich die Schuld am ausbleibenden Lesegenuss lange genug selbst zuschreibt. Und auch die vielen Portraits um ihrer selbst willen, die nie zusammenlaufenden Handlungsstränge und der seltsam romantisierende, selbstmitleidige Duktus bleiben aus einem einzigen Grund lange ungetadelt, und das ist die Profilneurose des Lesers, der nicht zugeben will, scheinbar "großen" Gedanken nicht folgen zu können. 

Immerhin in dieser einen Hinsicht ist "Alle Seelen" bereichernd (wenn auch nicht auf unterhaltsame Art, Gott bewahre, das darf ja aber auch nicht der Sinn intellektueller Literatur sein, nicht wahr?): Es hält uns den Spiegel vor dabei, wie wir uns angesichts vermeintlich großer Namen verunsichern lassen. Ich empfehle in solchen Fällen, sich mit Autoren wie Thomas Mann oder Henry James zu befassen. Die Erfahrung, dass Literatur kompliziert und dabei spannend, hochgebildet und trotzdem lebendig sein kann, schützt im Zweifel vor falscher Hochachtung.

Ach, ein Letztes noch: "Allerseelen" war 1991 schon einmal in Deutschland erschienen - Jahre vor Reich-Ranickis Lobgesang- und ging bei Kritik und Publikum sang- und klanglos unter. Hm hm.

Bewertung: 2 von 10

Lesezeit: 30 Tage (mit langen Unterbrechungen und viel Willenskraft)




Korrektur zwecklos

Je besser ein Buch ist, desto schwerer ist es, darüber zu schreiben. Ein Verriss ist einfach, weil man sich entspannen darf - warum sollte eine Kritik besser sein müssen als ihre Vorlage? In dieser Hinsicht ist es ein ausgewachsener Alptraum, Jonathan Franzens "Korrekturen" zu rezensieren. Anstatt das Inhaltliche wiederzukäuen, das unzählige pflichtbesonnener Kritiker schon minuziös aufgezählt haben -macht ja auch Spaß-, fliehe ich mich deshalb feige in die Subjektivität und begnüge mich damit, offenzulegen, was ich an fatalistischen (und ja, peinlichen) Befindlichkeiten durchlebt habe, während ich die "Korrekturen" las. In der Reihenfolge ihrer Häufigkeit sind das absteigend:

1.) Habe ich jemals ein besseres Buch gelesen, oder besser ausgedrückt, kann überhaupt ein besseres Buch geschrieben werden als dieses? Wie ist es möglich, dass jemand einfach so viel besser schreiben kann als ich es jemals könnte? Und: woher weiß der Mann so viel über alles - ich meine, alles?
2.)  Wie konnte Bettina Abarbanell bei der Übersetzung dieser linguistischen Kathedrale -ja, das darf pathetisch klingen- vor Ehrfurcht auch nur ein einziger Absatz gelingen, geschweige denn das ganze Buch, und das auch noch so gut, dass man die Genialität, mit der Franzen in einem Dreiwortsatz fünfzehn Andeutungen unterbringt, scheinbar ungefiltert genießen (und sich von ihr quälen lassen) kann?
3.) Stimmt etwas nicht mit mir, wenn ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mich gezwungen fühle, die Lebensfehler fiktiver Romanfiguren kraft meiner Phantasie korrigieren zu wollen?

Wobei wir beim Thema des Buches wären, mit dem uns der Buchtitel so wunderbar subtextlos anspuckt. Wo er in der Vergangenheit am Rand meines Lesehorizonts aufgetaucht war, hatte genau dieser Titel dafür gesorgt, dass das Buch nie in den Fokus rücken durfte - Konnotationen mit sterilen Anwaltsplots oder verkopftem Professorengesülze* hielten es davon ab. Die Tatsache, dass es von der Kritik ehrfürchtig behandelt wurde, bestärkte mich in letzterer Version. So viel zum Thema Vorurteile. Bei den Korrekturen in den "Korrekturen" geht es weder um Akten noch um Seminararbeiten, sondern um das verzweifelte, ironische, schmerzhafte und vor allem vergebliche Ringen mit einem Haufen Unrecht, das Familienoberhaupt Alfred Lambert seiner Frau und seinen drei Kindern in Form eines hyperkonservativen "Broken Home"-Alptraums beschert. Franzen schildert gnadenlos scharfsichtig, wie die erwachsenen Kinder der Lamberts die unwiederrufbaren Traumata ihrer beschädigten Kindheit im prüden Mittelwesten Amerikas in pathologischen Beziehungen und Lebensentwürfen umzukehren zu versuchen. Das, und ganz beiläufig noch tausend Kunstgriffe mehr, schafft Franzen so wahnsinnig weltläufig, psychologisch brilliant (ich möchte ihn NICHT als Therapeuten haben, bekäme Angst vor mir selbst), durchgehend spannend und trotzdem nicht unversöhnlich, dass einem das Buch am Ende realer erscheint als das Spätherbstwetter draußen. Unfassbar, der Typ.

Bewertung: 10 von 10

Lesezeit: 9 Tage

*siehe hierzu meinen nächsten Post, folgt in Kürze

Perlen vor die Säue

Nichts an der Aufmachung des vierten Romans von Siri Hustvedt lässt auf seinen Inhalt schließen: Das reizlose, nichtssagende Einbandbild (gibt es auf dem deutschen Buchmarkt überhaupt gute Bucheinbände?), der unbeholfene Deckeltext, das zurückhaltend lobende Zitat der Frankfurter Rundschau: "Siri Hustvedts eindrucksvollster Roman." Wahr daran ist zumindest die Wortwahl: Eindrucksvoll ist "Was ich liebte", allerdings ist das eine ziemliche Untertreibung. Eher gerät man auf der Suche nach Adjektiven dafür ins Stocken - "psychologisch tiefsinnig" oder "dicht und lebensklug" klingt zwar nett, kratzt aber eben nicht einmal an der Oberfläche dessen, was Hustvedt da rausgehauen hat. Ein einziges Adjektiv fand ich am Ende passend: Es ist ein großes Buch. Groß in Inhalt und Ausdruck, Umfang und Perspektive. Es erzählt mit großem Anspruch eine große Geschichte mit großem Unterhaltungsfaktor. Und dabei gelingt Hustvedt ziemlich mühelos ziemlich viel auf einmal, denn die Lebensgeschichten zweier intellektueller Familien im New Yorker Soho bilden den Rahmen für mehr als ein einzelnes Buch: Was aus der Sicht des Erzählers, des Kunsthistorikers Leo, als glückliche Familiengeschichte beginnt, wandelt sich im Laufe seines Lebens -und des Romans- zur Tragödie und schließlich zum Thriller, absolut nahtlos und glaubwürdig. Außerdem werden die großen Themen des Romans, Kunst, Liebe und Verlust, gleichzeitig psychologisch und intellektuell beackert, ohne jemals akademisch oder gestelzt zu klingen. Überhaupt könnte man bei all der Klugheit, die sie versprüht, übersehen, wie herausragend Hustvedt mit Sprache umgehen kann. Die Figuren sind so plastisch wie ihre Sprache individuell - man bildet sich bei Dialogen fast ein, ohne Angabe erraten zu können, wer spricht. Daneben zeichnet Hustvedt eine Chronologie der New Yorker Kunstszene von den Siebzigern bis zur Jahrtausendwende nach und entwirft das erschütternd realistische Portrait einer antisozialen Persönlichkeit - und noch so vieles mehr, was ich gar nicht vorwegnehmen möchte. Lest das Buch bitte gefälligst selbst.

Der vielleicht einzige Grund, warum man "Was ich liebte" vielleicht vorzeitig aus der Hand legen könnte: Es ist so intellektuell und ambitioniert wie seine Charaktere, und fordert deshalb einen Leser auf Augenhöhe. Wer nicht offen ist für Kunst oder kein Interesse hat, etwas zu lernen, dürfte sich langweilen. Und wäre gut beraten, das für sich zu behalten, denn in diesem Roman keine Perle zu erkennen, bedeutet schon irgendwie, sich zur Sau zu stempeln.

Bewertung: 9,5 von 10

Lesezeit: 6 Tage

Schlaflos in Tokio

Mo Hayder ist eine zarte, hübsche Blondine. Kaum zu glauben, dass sie dieses Buch geschrieben hat. Denn das Grauen, das sie in "Tokio" schildert, würde genügen, um Männer wie Schrankwände in die Knie zu zwingen. Hätte Hayder eine der beiden Schreckensszenen dieses Buches an den Anfang der Story gesetzt, ich hätte sofort aufgehört zu lesen. Und ich bin froh dass sie es nicht getan hat, denn "Tokio" ist gut. Heftig und trotzdem solide, wild und gleichzeitig feinfühlig - ganz wie seine Heldin Grey, die auf der Suche nach Erlösung von ihrem dunklen Geheimnis nach Tokio kommt. Ihr Weg zu sich selbst führt sie auf Privatparties eines Mafiachefs, ins Bett eines Psychopathen und schließlich zu einem alten Professor, dessen Leben von der Lösung ihres Rätsels genauso abzuhängen scheint wie ihres. Hayder beginnt mit zwei scheinbar unzusammenhängenden Handlungssträngen und lässt sie lange nebeneinander herlaufen, bis sie im unbarmherzigen Finale aufeinandertreffen. Davon ist einer, der historische, zu Beginn etwas ereignislos, aber das häufige Umschwenken in die temporeiche Geschichte der coolen jungen Grey im Tokioer Nachtleben hält den Leser problemlos bei Laune. Ohne zu kommentieren, ohne die schwere Kost vorzukauen, verwebt Hayder die Schrecken des japanisch-chinesischen Kriegs und den persönlichen Leidensweg einer jungen Frau zu einem dichten Thriller, der moralisch nur um eine Frage kreist: Inwiefern befreit uns Unwissenheit von Schuld? Wie auch immer wir uns diese Frage letztendlich -mit flauem Bauchgefühl- beim Zuschlagen dieses Buchs beantworten mögen: Die starke Grey lebt noch lange in unseren Hinterköpfen weiter. Als Freundin - und als jemand, der uns Schauer über den Rücken jagt.


Bewertung: 8,5 von 10

Lesezeit: 7 Tage

Effektvolle Vorführung

Erin Morgensterns Erstling "Der Nachtzirkus" verspricht viel. Der Buchklappentext spricht vom "Roman, der Amerika begeistert" (Platz 1 der Bestsellerliste), Audrey Niffenegger erklärt, er habe sie glücklich gemacht, und euphorische Zitate der großen US-Feulletons zieren die Buchrückseite. Ullstein hat sich mit der Auflage Mühe gegeben; das schwarz-weiß gestreifte Design greift die Ästhethik des magischen Zirkus' aus dem Inhalt auf. Ich gebe zu, bei mir hat es gewirkt - ich habe mich euphorisch darauf gestürzt. Und ich kann nicht sagen, dass ich enttäuscht worden wäre. Der komplexe Aufbau der Geschichte um ein Magier-Liebespaar tut der Spannung keinen Abbruch; die Handlungsstränge bleiben nachvollziehbar, und wer konzentriert liest, erlebt immer wieder schöne Überraschungsmomente, wo er gekonnt in die Irre geführt wurde. Obwohl die Figuren zu Beginn der Handlung recht eindimensional daherkommen, entwickelt man doch im Laufe der Geschichte eine Sympathie für die Helden - genug, um auf einen guten Ausgang zu hoffen - wenn auch für mich zu wenig, um wirklich mitzufiebern. Denn so solide die Story, so wohldurchdacht und detaillreich die komplizierten Magierwelt auch ist - von dem betörenden Zauber, der so hoch gelobt wird, spürt man eher nur einen Hauch. Morgenstern baut zwar ein beeindruckend einfallsreiches phantastisches Konstrukt, aber es gelingt ihr nicht, dieses auch atmosphärisch zu füllen. Es fehlen die Lücken zwischen den Worten, wo der Leser seine eigenen Konnotationen und Gefühle einbringt, so dass die Zirkuswelt auch zu seiner eigenen wird.

Eindeutig ist "Der Nachtzirkus" eine charmante Geschichte mit großem Potential und allen Zutaten eines Hollywood-Hits -fast zwanghaft musste ich beim Lesen immer wieder darüber nachdenken, welche Schauspieler die verschiedene Charaktere am besten darstellen könnten- aber genau wie diese Blockbuster könnte er für meinen Geschmack ein klein bisschen weniger Effekt und  mehr literarische Tiefe vertragen.


Bewertung: 7,5 von 10

Lesezeit: 12 Tage

Weise große Schwester

Es gibt diese Sorte Bücher, die unserem Alltag etwas Beruhigendes und Tröstliches beigeben, solange wir sie lesen. Im Besten Fall empfinden wir die Erzählerin sogar als die große Schwester, die wir nie hatten und uns immer gewünscht haben. Siri Hustvedt ist mit ihrer Mia eine Figur gelungen, bei der es uns (Frauen zumindest) so ergeht: Vom ersten Wort an schwimmen wir in grenzenloser Sympathie zu ihr, und nur ganz selten unterdrücken wir einen Hauch von Neid - besonders diejenigen von uns, die in der Dame autobiografische Anteile zu erkennen glauben. Genau wie ihre Mia ist Siri Hustvedt nämlich "eine dieser Überfrauen" - eine Mittfünfzigerin, die wie Ende Dreißig aussieht und mit ihrem weltberühmten intellektuellen Ehemann zusammen in New York ein in jeder Hinsicht reiches Leben führt. Und genau wie der bezaubernden Frau Hustvedt verzeihen wir der Romanheldin ihre Großartigkeit letztendlich. Und das nicht nur, weil diese (im Gegensatz zu ihrer Erfinderin) von ihrem Ehemann verlassen wird, was den titelgebenden "Sommer ohne Männer" einleitet. Es liegt vielmehr an der geradezu anrührenden demütigen Ehrlichkeit, mit der die Heldin, hochintellektuell und hypersensibel, die Forschungsreise ins Innere ihres "zerfledderten Herzens" antritt. Es liegt an der Mischung aus Mitgefühl, wissender Erhabenheit und Ironie, mit der die Verlassene beschreibt, wie sie kurzzeitig ihren Verstand verliert um letzten Endes sich selbst (neu) zu (er)finden. So klug, rechtschaffen wütend und trotzdem nobel hat selten jemand das Thema Verlassenwerden behandelt. Und auch wenn gegen Ende der Anteil an philosophischem Diskurs ein Quäntchen zu sehr die Handlungsstränge auseinanderzieht, bleibt "Der Sommer ohne Männer" trotzdem mit jeder Seite ein Buch, das man nur sehr ungern aus der Hand legt.


Bewertung: 8,5 von 10

Lesezeit: 3 Tage